Durst 10/2019

28  Markt & Trends J emand am grossen Tisch hat Geburtstag. Geschenke werden ausgepackt. «Oh, eine Uhr. Grazie, grazie mille!» Und was ist in dieser Schachtel? Seidenpapier raschelt. Schu­ he! Richtig schöne Herrenschuhe aus Leder. IchhabnochnieSchuhe verschenkt. Geschwei­ ge denn, welche geschenkt bekommen und in einem Restaurant ausgepackt. Der Kellner kommt an den Tisch. Nicht wegen der leeren Teller. Nein. Er streckt die Hand aus: «Darf ich?» Er wiegt den Schuh in seinen Händen, dreht und kippt ihn. Begutachtet ihn von allen Seiten. Dann sagt er in ernstem Tonfall: «Tja. So ein Schuh. Das ist natürlich immer etwas Faszinierendes.» Wann immer ein Kind einen Anflug von Lange­ weile zeigt, wird es von einem Erwachsenen in ein Gespräch verwickelt. Droht ein Baby mit Weinkrampf, wird es sofort von jemandem auf den Arm genommen, gehätschelt und liebkost. Oder mit etwas versorgt, das es kauen, trinken oder nuckeln kann. Die älteren Familienange­ hörigen sitzen prominent in der Mitte. Nicht abgeschoben am Rand. Nie ist die Gruppe zu laut. Nie versiegt das Tischgespräch in peinli­ chem Schweigen. Es ist, als wäre die Familie bei sich zu Hause. Ganz normal. Kinder sind selbstverständlich dabei Eine Frau im Restaurant isst alleine. Sie hat einen Einzeltisch mitten im Raum. Ihre Er­ scheinung ist von opernhaftem Ausmass. Wie auch die Folge an Speisen, die eine nach der Claudio Del Principe schreibt über eine schöne Renaissance Von der Essenz des Essens – oder wie in Italien die Gastronomie den Sonntag neu entdeckt Sonntags wird immer weniger auswärts ge­ gessen. Nur wenige Lokale sind offen. Scha­ de eigentlich. In Italien kommt ein Gegen­ trend auf und Gastronomen bieten wieder Sonntagsessen an. Dort fühlt es sich an, als gehörten irgendwie alle Gäste zu einer gros­ sen Familie. Neugeborene, Kleinkinder, Ju­ gendliche, Eltern und Grosseltern – alle sit­ zen gelassen beisammen und lassen sichs gut gehen. Und auch wenn sich die Gäste nicht kennen, so erkennen sie doch, dass sie Teil einer Gesellschaft sind, für die es nichts Wichtigeres gibt als: Essen in Gesellschaft. anderen aufgetragen werden. Sie geniesst je­ den Happen und schenkt jedem, der in ihre Richtung blickt, ein strahlendes, anstecken­ des Lächeln. Diese Frau weiss zu essen. Das kann jeder sehen. Deshalb erntet sie Aner­ kennung. Und nicht etwa verachtende oder hämische Blicke. An einem anderen Tisch sitzt ein junges Paar. Ihr kleines Kind ist ganz selbstverständlich dabei. Keine Frage. Und es isst, was die Eltern essen. Auch keine Frage. Nicht die geringste. Wenn ich in unseren Breitengraden immer wieder mal lese, dass einige Leute ernsthaft ein Verbot für Babys und Kinder im Restau­ rant fordern, frage ich mich: Wie fehlgeleitet ist so eine Gesellschaft eigentlich? Wie krank, egomanisch, unmenschlich und unfähig, sich auf etwas einzulassen, das nicht zu hundert Claudio Del Principe sonntags im Restaurant Il Molo. Kolumne

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