Durst 09/2019
People & Unterhaltung 19 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es immer weniger klassische Arbeiter. Man arbeitete nun vor allem imDienstleistungs- sektor. Was bedeutete dies für die Entwicklung der Bierkultur? Matthias Wiesmann: Als klassische Biertrinker galten jahrzehntelang die Arbeiter, und deren Zahl nahm tatsächlich stark ab. Ausgerechnet während dieser De-Industrialisierung wurde nun aber der industrielle Chic zelebriert. In ehemaligen Fabriken entstanden Lofts, Restaurants und Kulturzentren. Als 1991 das Bierkartell fiel, hiess die erste grössere Brauerei bezeichnenderweise Turbinenbräu. Vorerst brauten die Neuen bereits bekannte Sorten wie Lager oder Amber. In Zeiten starker Glo balisierung, auch in der Brauindustrie, betonten sie insbesondere ihre regionale Herkunft. Ganz nach demMotto: Bier braucht Heimat. Und später, in der zweiten Phase nach demFall des Bierkartells? Ende der 1990er-Jahre gewannen Craft-Biere an Bedeutung. Mit Hand- werk braute man nun obergärige Biere, wobei man sich an belgischen und amerikanischen Spezialitäten orientierte. So entstand die Craft-Bier- Bewegung. Heute suchen die Gäste neue Geschmacksrichtungen und Aromen. Sie wollen zwar sehr wohl wissen, woher das Craft-Bier kommt und welche Rohstoffe es beinhaltet. Weniger wichtig ist ihnen aber, dass das Bier praktisch vor ihrer Haustüre gebraut wird. Nehmen wir als Bei- spiel die Craft-Biere von Valaisanne, die in der ganzen Schweiz erfolg- reich sind. Die Leute kennen das Wallis, viele schätzen es. Sie verbinden die Eigenschaften der Craft-Biere aus demWallis mit deren Heimat. Heute weiss auch der Durchschnittskonsument über Bier gut Bescheid. Was bedeutet dies für die Gastronomie? Gastronomen sollten ihren Gästen mindestens fünf verschiedene Biere anbieten und diese auch kompetent vermitteln können. Dabei gilt es, das Portfolio sorgfältig auszuwählen. Warum nicht das Feldschlösschen Braufrisch statt das Original als offenes Lagerbier? Als Ergänzungen empfehle ich mindestens ein Craft-Bier von Valaisanne, und im Bereich der Weizenbiere mindestens ein Produkt von Schneider Weisse. «Die anhaltende Entdeckerfreude im Bierbereich ist auch ein Akt der Selbstinszenierung» Matthias Wiesmann. Auf ein Bier mit Matthias Wiesmann Der Zürcher Matthias Wiesmann ist freischaffender Historiker und Autor, unter anderem des Buches «BIER UNDWIR». Seine Lizenziatsarbeit hat er über die Brauerei Hürlimann ge- schrieben. Von 2010 bis 2019 vertrat er die Grünliberalen im Zürcher Ge- meinderat, den er 2015/16 präsidierte. www.transmissionen.ch MAT T H I A S W I E SMA NN In seinemBuch «BIER UNDWIR» befasst sich MatthiasWiesmannmit der Geschichte der Brauereien und des Bierkonsums in der Schweiz. DURST hat mit dem Historiker und Autor über die jüngste Vergangenheit gesprochen und auch einen Blick in die Zukunft gewagt. Eines wurde dabei klar: Die Bierkultur ist immer auch ein Spiegelbild der Zeit und der Gesellschaft, in der sie stattfindet. Woher kommt die anhaltende Neugierde auf neue, spezielle Biere? Das hat auch mit Selbstinszenierung zu tun. Der Mensch will eine eigene Marke sein und dies auch kommunizieren. Das fördert auch die Neugierde im Bierbereich. Wenn du irgendwo ein neues Bier entdeckst, teils tu dies der Community mit. So kannst du dich von den anderen abheben. Heute achtet man auf seine Gesundheit und die Leistungsfähigkeit. Ist dies der Grund, warum vermehrt alkoholfreie Biere bestellt werden? Ja, und die alkoholfreien Biere sind ja auch besser geworden. Der Trend wird anhalten, wobei man alkoholfreie Biere vor allemamMittag bestellt, wenn man danach noch arbeiten muss. Bier ist und bleibt aber ein Getränk, das man mit Alkohol in Verbindung bringt. Die Wirkung des Alkohols gehört zum Gesamtpaket – in vernünftigemMass. Nachhaltigkeit und Ökologie sind auch en vogue… ...aber dieser Trend manifestiert sich im Bier- und übrigens auch im Weinsektor kaum. Es gibt zwar Bio-Biere und Bio-Weine, doch das sind und bleiben Nischenprodukte. Das hat damit zu tun, dass Bier und Wein per se und auch ohne Bio-Siegel als natürliche Produkte gesehen werden. Werfen Sie als Historiker zumSchluss bitte noch einen Blick in die Zukunft. Wie wird sich die Bierkultur entwickeln? Völlig neue Biere wird es nicht geben, neue Nuancen zum Beispiel mit speziellen Hopfenzüchtungen aber sehr wohl. Mehr Spielraumgibt es bei den Bieren, die mit Früchten, Kräutern und Gewürzen angereichert wer- den. Craft-Biere bleiben beliebt, aber die Zahl der Kleinbrauereien wird eher abnehmen. Sobald man damit nämlich Geld verdienen muss, stel- len sich Probleme. Als Hobby wird Bierbrauen seine Stellung behalten.
RkJQdWJsaXNoZXIy MjYwNzMx