Durst 08/2018
People&Unterhaltung 19 Mythos oder Realität, frei erfunden oder tatsächlich passiert? Mit diesem DURST-Interview anlässlich des Schweizer Nationalfeiertages verhält es sich wie mit Wilhelm Tell selbst. Also halten wir bloss fest: Auch Mythen sind real existent. Unser Nationalheld hat jedenfalls eine Menge zu erzählen – über die Schweiz, ihre Freiheitsliebe und ihre Bierkultur. Hand aufs Herz, würden Sie heute immer noch aus demHinterhalt mit der Armbrust auf Unterdrücker schiessen? WilhelmTell: Ach diese alte Geschichte! Die Zeiten haben sich geändert. Wäre ich heute Bergbauer im unwegsamen Schächental im Kanton Uri, könnte ich meine Familie von den reichlich fliessenden Subventionen ernähren. Ich würde von keinem Vogt gegängelt und müsste auf nieman- den schiessen. Mir ist sehr wohl bewusst, dass Konflikte jetzt anders ausgetragen werden als damals, zu Beginn des 14. Jahrhunderts. Aber wissen Sie: Früher war beileibe nicht alles schlechter als heute. Wie meinen Sie das? Sollte man immer noch auf Gegner schiessen? «Erlasset mir den Schuss» habe ich den Vogt angefleht und ihm mein Herz angeboten. Ich lasse mich nicht als schiesswütig titulieren und in eine hinterwäldlerische Ecke stellen. Als Volksheld arbeite ich heute selbstverständlich mit einer PR-Agentur zusammen, und die hat mir dringend davon abgeraten, zu politischen Fragen Stellung zu nehmen. Also anders gefragt: Was war früher denn besser als heute? Sie stehen doch im Solde von Bierbrauern. Also nehme ich ein Beispiel, das Sie verstehen sollten: Zu meiner Zeit war das Brauen eine Sache der Mönche und der Weibervölcher. Wir Männer gingen auf die Jagd, wir standen nicht am Herd und kochten Bier. Sie müssen aber zugeben, dass die Biere heute besser munden. Ich habe ja auch nicht behauptet, früher sei alles besser gewesen als heute. Zu meiner Zeit wurde Bier mit Kräutern und Gewürzen vermischt, denn der Hopfen spielte in der Braukunst noch keine grosse Rolle. Unsere Biere schmeckten süsslich und hatten nur eine geringe Haltbarkeit. Sie waren aber das wichtigste Getränk für das Fussvolk, dem ich angehörte. Die verwendeten Rohstoffe waren billig und in ganz Europa verbreitet. Und was wir besonders schätzten: Bier beinhaltete schon damals viel weniger Keime und andere Krankheitserreger als Wasser. Heute macht sich der moderne Mensch unnötig Sorgen, der Bierkonsum könne ihm zumSchaden gereichen. Wir tranken damals Bier in erster Linie, weil wir wussten, dass es unserer Gesundheit wohl kaum Schaden zufügen wird. Vor Ihrem legendären Apfelschuss haben Sie aber hoffentlich nicht allzu viel Bier getrunken. Ein alkoholfreies Bier wäre der Treffsicherheit bestimmt nicht abträglich gewesen, aber leider gab es das damals noch nicht. Ich gebe ja zu, dass sich vieles zum Besseren gewandelt hat. Von der heutigen Biervielfalt zum Beispiel konnten wir damals nur träumen. Als Freiheitskämpfer lege ich aber Wert auf die Feststellung, dass dieser Fortschritt nur dank eines lange geführten Freiheitskampfes möglich war. Der Kapitalismus war nämlich bereits globalisiert, als in der Eidgenossenschaft noch immer ein Bierkartell herrschte. Kartell! Wenn ich dieses Wort nur höre, würde ich am liebsten zur Armbrust greifen. Bis in die 1990er-Jahre hin- «Zu meiner Zeit war das Bierbrauen eine Sache der Mönche und der Weibervölcher» Auf ein Bier mit Wilhelm Tell Wilhelm Tell aus der Schiller-Galerie (Stahlstich, um 1859). ein hat das Bierkartell die Freiheit der Branche unterdrückt. Erst als es abgeschossen worden war, erhob die Freiheit siegend ihre Fahne und die Bierbrauer konnten ihr Getränk weiterentwickeln. Das Alte stürzt, es än- dert sich die Zeit und neues Leben blüht aus den Ruinen. Der letzte Satz stammt aus «Wilhelm Tell» von Friedrich Schiller. IndemSie ihn zitieren, entpuppen Sie sich ja als richtig fortschrittlich. Die entscheidende Frage ist doch: Wie ist Freiheit zu gewinnen? Wir Eid- genossen sind gut beraten, uns auf die lange und einzigartige Tradition unseres Landes zu besinnen und uns gleichzeitig dem Fortschritt nicht zu verschliessen. Wo's not tut, Fährmann, lässt sich alles wagen. «Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit und neues Leben blüht aus den Ruinen.»
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